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Der unerwartete Gast

 

 

Es war ein regnerischer Freitagabend, als Julia gerade dabei war, ihr Abendessen zuzubereiten. Sie hatte eine anstrengende Woche hinter sich, voller Meetings, E-Mails und kleiner Katastrophen im Büro. Endlich wollte sie den Abend in Ruhe verbringen, vielleicht einen Film schauen und früh ins Bett gehen.

 

Plötzlich klingelte es an der Tür. Das war ungewöhnlich, denn Julia erwartete keinen Besuch. Sie wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und ging zum Eingang.

 

Vor ihr stand ein junger Mann in durchnässter Kleidung. Seine Haare klebten an der Stirn, und er hielt einen kleinen Koffer in der Hand.

„Entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hereinschneie“, begann er, „aber ich glaube, Sie sind meine Cousine Julia.“

 

Julia runzelte die Stirn. Der Mann kam ihr nicht bekannt vor. Doch dann erinnerte sie sich an ein Gespräch mit ihrer Mutter vor einigen Monaten. Sie hatte von einem entfernten Verwandten aus Hamburg erzählt, der viel reiste und bald geschäftlich in ihre Stadt kommen wollte.

 

„Komm schnell rein, du bist ja völlig durchnässt“, sagte sie schließlich. Sie holte ein Handtuch aus dem Bad und reichte es ihm. Während er sich abtrocknete, stellte sie heißen Tee auf den Tisch und servierte ein paar Scheiben Brot mit Käse.

 

Der Mann stellte sich als Leon vor. Er erklärte, dass er am nächsten Tag ein Vorstellungsgespräch in einem Architekturbüro habe. Sein Zug hatte Verspätung, und wegen des starken Regens habe er den Anschlussbus verpasst. Da er ihre Adresse noch von seiner Mutter hatte, sei er einfach zu Fuß gekommen.

 

Während sie Tee tranken, kamen die beiden ins Gespräch. Sie redeten über Familie, Reisen, Bücher und Musik. Julia war überrascht, wie offen Leon über sein Leben sprach – über seine Arbeit als freier Designer, seine Zeit im Ausland und seine Pläne, in eine größere Stadt zu ziehen.

 

Je länger sie sprachen, desto vertrauter fühlte sich die Situation an, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Julia merkte, wie angenehm es war, an diesem verregneten Abend nicht allein zu sein.

 

Es war schon nach Mitternacht, als Leon müde lächelte und meinte, er müsse schlafen. Julia bereitete das Gästezimmer vor und wünschte ihm eine gute Nacht.

 

Am nächsten Morgen war die Sonne wieder da. Leon frühstückte schnell, bedankte sich für ihre Gastfreundschaft und ging zu seinem Termin. Auf dem Küchentisch ließ er einen kleinen Zettel zurück: „Danke für deine Gastfreundschaft. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

 

Julia las die Worte und lächelte. Vielleicht, dachte sie, war dieser unerwartete Besuch ein Anfang – nicht nur einer neuen Bekanntschaft, sondern vielleicht sogar einer echten Freundschaft.

  • der regnerische Abend – rainy evening

  • zubereiten – to prepare (food)

  • die Katastrophe – disaster

  • in Ruhe – in peace / quietly

  • der Besuch – visit

  • durchnässt – soaked through

  • hereinschneien – to drop in unexpectedly

  • runzeln (die Stirn) – to frown

  • der entfernte Verwandte – distant relative

  • das Handtuch – towel

  • aufbrühen – to brew (tea/coffee)

  • der Koffer – suitcase

  • das Vorstellungsgespräch – job interview

  • die Gastfreundschaft – hospitality

  • der Anschlussbus – connecting bus

  • verpassen – to miss (a bus/train)

  • vertraut – familiar

  • vorbereiten – to prepare

  • hinterlassen – to leave behind

  • die Freundschaft – friendship

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